Rezension


Hector Berlioz

„Memoiren“

Bärenreiter-Verlag, 2007




Das 19. Jahrhundert von Innen
Die „Memoiren“ des Komponisten Hector Berlioz vom Bärenreiter-Verlag neu ediert und übersetzt.

Während der Opernvorstellung tönt es lauthals aus dem Parkett: „Steht nicht in der Partitur!“, woraufhin der Graben vom Publikum gestürmt wird, die dort liegengebliebenen Instrumente sinnlos zertrümmert werden. Szenenwechsel. „An einem schönen Morgen im Mai saß ich in La Côte-Saint-André auf einer Wiese im Schatten einiger großer Eichen und las ... . Obwohl völlig in meine Lektüre vertieft, wurde ich doch von den sanften und traurigen Gesängen ab-gelenkt, die in regelmäßigen Abständen in der Ebene erschallten. Ganz in der Nähe zog die Bittprozession vorbei, und ich hörte die Stimmen der Bauern, die die Allerheiligenlitanei san-gen. Dieser Brauch, im Frühling über die Hänge und durch die Ebene zu ziehen, um den Se-gen des Himmels für die Früchte der Ernte zu erflehen, hat etwas Poetisches und Rührendes, das mich unsagbar bewegt.“ Beide Extreme, einmal bei der größten gesellschaftlichen Auf-ruhr im Opernhaus unmittelbar beteiligt zu sein, andererseits aber in maximaler Einsamkeit aufkommenden, in diesem Falle religiösen Empfindungen in einer gewissen Distanziertheit zu beschreiben, sind charakteristisch für das Leben des Hector Berlioz, wie übrigens für sein Oeuvre insgesamt.

Berlioz’ „Memoiren“ gehören zu den wichtigsten Dokumenten, was Aufführungspraxis und Musikleben im Kerneuropa des mittleren 19. Jahrhunderts angeht. Sie nehmen einzelne Diri-genten, Orchestermusiker oder Sängerinnen sei es in Paris, sei es in Dresden oder Prag zum Teil chirurgisch genau auseinander; doch nie böse, sondern immer geistvoll, französisch und ganz im Sinne der hohen Kunst Musik. Natürlich braucht man, wenn ein Beobachter mit dem Sensorium eines Berlioz Alltagsgespräche, Alltagssituationen oder einfach den Künstleralltag beschreibt, auch keine Sozialgeschichte aus der Zeit mehr zu lesen. Man bekommt sie quasi umsonst mit dazu. Dass der Bärenreiter-Verlag nach den „Schriften“ Berlioz’ und der „In-strumentationslehre“ (2002/2003) nun auch die Memoiren in einer sensiblen wie flüssigen, differenzierten wie für unsere Zeit authentischen Übersetzungssprache Dagmar Krehers he-rausbringt, ist ein wahrer Segen. Es seien überdies die etlichen, miteingeflochtenen Briefe (an Heine, an Liszt) von den Deutschlandreisen erwähnt. Abgerundet wird diese Ausgabe durch ein keineswegs in derartig hochformatigen Weise üblichen Personenglossar, bzw. -register.

Dieses Buch enthält nicht nur für wissenschaftliche Fachexperten oder für Musikinteressierte, sondern gerade auch für junge wie heranwachsende Musizierende einen unerlässlichen Fun-dus an geschmacksbildenden Einsichten zur Musik beispielsweise zur Klangfarbe, zur In-strumentation, die mittlerweile wie selbstverständlich das Rückgrat unseres modernen Musik-verständnisses und –empfindens bilden – aber eben nur, weil es Menschen mit dem Geistfor-mat eines Hector Berlioz gab. Rundum: Ein tolles, empfehlenswertes Buch.


Wolfgang Hoops - red / 11. Dezember 2007
ID 00000003608
Hector Berlioz
„Memoiren“
Bärenreiter-Verlag, 2007
Neuübersetzung.
Herausgegeben und kommentiert von Frank Heidlberger Übersetzt von Dagmar Kreher ca. 684 Seiten; gebunden mit Schutzumschlag.
ISBN 978-3-7618-1825-1
€ 64,-

Weitere Infos siehe auch: http://www.baerenreiter.com/