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Rezension


Elfriede Jelinek

NEID, Privatroman


Liegt nicht als Buch vor, ist ausschließlich nur auf ihrer Website www.elfriedejelinek.com zu lesen

Das von Elfriede Jelinek für die Startseite ihrer Homepage www.elfriedejelinek.com autorisierte Foto - (C) Ulla Montan, Stockholm


Die Reinkarnation von Frau Kohut

Sehen und Lesen, freilich sind sie eins:

Denn Isabelle Huppert, als Erika Kohut, konnte und kann der Zuschauer und Leser nie so richtig auseinanderhalten; und ich hatte dann (beim zweiten Lesen von Elfriede Jelineks DIE KLAVIERSPIELERIN) das Bild der Einen fest in mir gebranntmarkt, um mir so die Andere, also die Eigentliche, bildlich vorstellen zu können. 2001 machte der Haneke den Film zum Buch; fast 20 Jahre nach Erscheinen dieses (Vorsicht!) autobiografischen Romans. Jetzt, Herbst 2008, lese und sehe ich sie wieder: Isabelle Huppert.

Sie ist zurückgekommen, sie ist (m)eine Vorstellung der neuen Hauptfigur im neuesten Roman Elfriede Jelineks. Sie heißt Brigitte K.; und dieses "K." könnte, also in meiner Lesart, auch mit jenem Anfangsbuchstaben ihrer vor über 20 Jahren schon erschöpften Kohut's Erika verwechselt worden sein; sie ist's, also in meiner Lesart, in der Tat. Reinkarniert. In: NEID, Privatroman.
Den Text gibt es ausschließlich nur im Internet. Auf der Autorenwebsite www.elfriedejelinek.com - und da lassen sich die fünf Kapitel, richtig klassisch aufgebaut wie bei den Shakespearestücken (Jelinek, auch Stückeschreiberin!!), der Reihe nach, oder halt wie man will, herunterladen... Nein, ich hätte diesen Text niemals im Leben bloß am Bildschirm "runterlesen" können; geht nicht, wird man ja verrückt. Also man muss dann schon, will man sich ernsthaft mit Elfriede Jelineks Privatroman NEID auseinandersetzen, diesen Text als Blätter, also schwarz auf weiß, schön vor sich haben, und ich habe mir dann seinetwegen extra einen Leitzordner in Pissgelb zugelegt, da sind jetzt an die 700 Seiten abgeheftet, und er steht als Letztes in der Reihe Jelinek'scher Bücher, die ich habe, und ich musste extra dann meine Regale umschrauben, damit der Leitzordner in Pissgelb auch in eines der Regale passt; nur Wirtschaft hatte ich sohin mit ihm/ihr.


Jedem Kapitel von Elfriede Jelineks Privatroman NEID (auf ihrer Homepage www.elfriedejelinek.com) ist dieses Detail aus Boschs Sieben Todsünden bildlich vorangestellt.


Jelinek hat - das ist einmalig und neu - den Kunst-und-Leben-Gegensatz, also so wie ihn Thomas Mann für seine Zunft im TONIO KRÖGER herdröselte und zerhandelte, im Ganzen aufgehoben. Sie begreift sich, also schreibend, diesmal ausschließlich als ausgesprochene Privatperson (= daher ihr Genre des Privatromans). Sie lässt den Leser unaufhörlich wissen, dass es ihr, also als Jelinek-Privatfrau, scheißegal ist, ob der Leser ihren Text nun liest oder es sein lässt oder wie auch immer, und sie tut mit der bewusstesten De-Kommerzialität argumentieren; also wenn sie schon kein Geld für ihre Arbeit nimmt, dann könne sie auch hiermit frank und frei nach ihrem Willen (Inhalt, Form und Sprache) tun oder getan haben, es wäre so und so am Ende - wie gesagt - dann scheißegal.
So hält sie auch dann ihren Finger mitten rein in diese Neuzeit-Wunde. Die heißt Internet. Und ist ein Fluch an sich; und wenn man sich hier umsieht... dieses WWW könnte auch stehen für die Formel: "Wer will wen?" Das meint, dass heutzutage jeder hergelaufne Leckarsch seinen hirngewalkten Scheißdreck weitwurstelnderweise irgendwem dann anzupreisen in der Lage wäre (falls er mit dem Medium umgehn kann; und das kann heutzutage ja fast jeder). Also tut sich Jelinek, bewusst und folgerichtig, mit hinzu. Sie reiht sich ein "in uns". Sie hängt ihren hybriden Rentiermantel in den Kleiderschrank, entkostümiert sich als "sie selbst" und spielt sich in dem neuzeitlichsten Spiel der Spiele schlicht und einfach mit. Sie schreibt und schrieb nicht mehr und auch nicht weniger als (NEID, Privatroman) ein Onlinetagebuch:
Ihr Text liest sich als Fluss. Er ist ein Sog. Man kann sich überhaupt nicht von ihm lösen. Einmal angefangen, hängt man dran und kommt nicht wieder los. Nicht eher als man dieses Jelinek'sche Ende von Brigitte K., dem neuen Jelinek'schen Ego, zu erfahren kriegt. Spektakulär und schlicht zugleich; natürlich werde ich es hier jetzt nicht verraten. Nur so viel vielleicht über die Handlung des Romanes selbst, der Stück um Stück für seine Schreiberin zur bloßen Absicht weghuschelt, also indem sie, eingestandner Maßen, peu à peu den Handlungsfaden immer mehr verliert, ihn wohl letztendlich fallen lässt, weil sie uns nämlich, ihren Onlinetagebuchlesern, ja eigentlich was völlig anders wissen lassen wollte; so:

Brigitte K. ist Geigenlehrerin. Sie lebt in einem Bergbau-Kaff. Ihr Ex lebt mittlerweile anderswo, er hat sich mit der Sekretärin aus dem Berbau-Kaff hinfortgeseilt. Die Sekretärin wurde von ihm schwanger, sie ist viel viel jünger als Brigitte K. Brigitte K. ist von dem Ex freilich dann "abgefunden" worden, mit dem Ex-Familien-Häuschen und 'nem kleinen Auto (Stadtwagen beziehungsweise Frauenwägelchen, so wie "wir Männer" sagen). In dem Bergbau-Kaff findet schon lange nicht mehr Bergbau statt, es macht jetzt auf Tourismus, und es wartet, ob wer Urlaub machen kommt. Brigitte K. lehrt Geigenschülern Geige. Es gibt kaum noch junge Leute in dem Bergbau-Kaff. Brigitte K. bleibt dennoch. Unterrichtet fort. Wen? was?? Sie fängt eine Affäre mit 'nem Schüler resp. mit dem Freund von einer Schülerin von ihr, also was Sexuelles, an. Der Junge, denkt sie, will doch nur ihr kleines Auto, also dass er auch mal so ein (wenn auch kleines) Auto fahren kann. Deswegen ist er ihr, so denkt sie, auch "zu Diensten". Schüler & Brigitte K.; ungleicher geht es nicht. Und in Brigitte K. kommt NEID auf. Auf die Schülerin/die Freundin von dem Schüler...

NEID kennt jeder. Er ist immer dann in uns, wenn wir nicht glücklich sind; dann sind wir neidisch auf die Glücklichen um uns, auf die, denen es, also in der Zeit, in der wir nicht so glücklich sind wie sie, viel viel viel besser geht. (Das ist die Primitivlingsformel für den NEID.) - Aber der NEID kann auch viel größer sein. Er hat dann philosophisch eine Dimension; NEID auf das Leben, NEID auf die, die richtig leben; impliziert so eine Art von Wut über verlorne Groschen.

Leben ist das Eine. Sterben ist das Andere. Wenn beides (Leben/Sterben) sozusagen Eins sind, ist die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten, also: Warten auf das Leben, weil man selber "lebensunfähig" geworden ist. Das Leben also nicht in eigne Hände nimmt. Sich permanent bloß wundert und erbost über die Lebenden, d. h. Lebendigen "um uns"... Es gäbe Vieles um das Thema "Leben oder Sterben" vorzubringen; Jelinek trat an, sich ihres eignen Daseinspunkts bewusst zu werden. Mittels ihres NEID, Privatroman.

Sie lenkt, weil sie das Thema ihres eignen Lebens/Sterbens schließlich unerforscht und ungeendet haben lassen will, von allem Wesentlichen, was sie anreißt (Vater-Mutter-Kind-Geschichte), ab. Sie wendet sich den aktuellen Tagesthemen ihres Landes zu. Sie wiederholt mit ihren eignen Worten, was sie in der Regenbogenpresse und auf den Privatkanälen liest und hört und sieht; sie kommt auch auf Natascha Kampusch oder Josef Fritzl. Sie besinnt sich der Geschichten, die das Leben schreibt; sie weist uns Leser (ihres Onlinetagebuches) darauf hin, dass es zum "wahren Leben" keinerlei Vergleiche mittels Kunst, Literatur gibt. Jelinek bezweifelt unaufhörlich nur das Eine, nämlich: Sich, und zwar als Künstlerin u n d Mensch. Noch nie und nirgends hat man derart viel Authentisches und Wahres über Jelinek erfahren; und sie lässt sich als ihr eignes Thema offen bis zum ungeschlossnen Schluss - - und es gibt irrwitziger Weise viel zu lachen, denn ihr Eigenwitz, die Eigenironie, absichtlich oder nicht, lesen sich gut; mitunter denkt man aber auch "o Gott, gleich wird sie sich das Leben nehmen"... Und das Alles könnte man für manisch halten. Ist es aber nicht!

Was der Autorin mittels NEID, Privatroman gelingt, ist: Die medial-verkommene Gesellschaft - durch sich selber, durch das einleuchtendste Beispiel einer auktorialen Vorführung - zu spiegeln. Aufzuzeigen, welche inwendige Leere herrscht. Wie Medien "ihren" Menschenkorpus vergewaltigen. Auf dass er keinen eignen Willen mehr für seine (wahren) Vorstellungen dieser Welt und dieses, also seines Lebens, aufzubringen in der Lage ist.

Sie, also Jelinek, gibt vor, im Leben als Lebendige gescheitert (worden) zu sein; vielleicht die größte Lüge, die sie sich und uns da auftischt, doch ich wage nicht, sie darauf als kokett zu schelten... nein; ihr Leidensmaß an sich, also seit Jahren und Jahrzehnten, teilte sich dem Leser unaufhörlich mit. Und ihr besagtes Werk, also ihr NEID, Privatroman, kann, wird und will sie freilich nicht, also als Mensch, vor ihrem Langzeitsterben retten. Also legt sie, wie sooft in ihren Werken, nicht nur Hand an sich, sondern - - aber das werde ich hier, wie gesagt, jetzt nicht verraten.

Isabelle Huppert hat sich das Küchenmesser aus der Herzgrube zurückerobert.

Jelineks gigantischster Roman!!!


Andre Sokolowski - red / 11. Januar 2009
ID 4169
www.andre-sokolowski.de


Weitere Infos siehe auch: http://www.elfriedejelinek.com





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