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Feuilleton

Andresen, Knud/ Rotaprint 25
Agit 883

Bewegung, Revolte, Underground in Westberlin 1969 – 1972
Hamburg; Berlin 2006; 294 S. : zahlr. Ill. + 1 CD-ROM
ISBN-10: 3935936532




Dynamit unterm Arsch der Bourgeoisie

Rezension zu „agit 883. Bewegung, Revolte, Untergrund in Westberlin 1969-1972“ von Birgit Hofmann

Eine Gruppe von Schweinen in Uniform marschiert vorbei an Stacheldraht. Sie trägt eine ebenfalls mit Schweinen bestückte US-Flagge. Im Hintergrund hängt das Konterfei Mao Zedongs. So dargestellt auf dem Cover der Untergrundzeitung Agit 883, Ausgabe 62. Die Agit 883 war zwischen 1969 und 1972 das auflagenstärkste Blatt der linksradikalen Szene Westberlins. Im Inneren finden sich Berichte zur „Faschisierung der Gesellschaft“, der Situation der Arbeiter in Italien, eine Menge Kleinanzeigen wie „Genossin sucht gebrauchtes Mofa“ und ein Slogan, in dem sich alle Hoffnungen der Zeit zu bündeln scheinen: „Die proletarische Linke ist Dynamit unterm Arsch der Bourgeoisie“. Nicht zuletzt enthält die Ausgabe 62 auch den Gründungsaufruf der RAF, „Die rote Armee aufbauen“. In der Agit 883 überkreuzten und verknoteten sich für wenige Jahre alle Stränge des zeitgenössischen Szene-Diskurses, um anschließend wieder in verschiedene Richtungen auseinander zu laufen. Diese Stränge zu entwirren und dabei einen fairen Blick auf die Attraktivität wie auch die ideologischen Verirrungen der Zeitschrift und damit der gesamten Szene zu werfen, leistet das Buch „agit 883. Bewegung, Revolte und Underground in Westberlin 1969-1972“.

Ohne eine gewisse Sympathie mit dem Projekt einer charmant-bunten bis militanten Szene-Zeitung zu verleugnen, haben die Herausgeber ein breites Spektrum kluger, lesenswerter Artikel zur Agit 883 zusammengestellt. Dem Buch liegt eine CD-Rom bei, auf der sämtliche Ausgaben der Zeitschrift versammelt sind. Das Zusammenspiel zwischen den Originalquellen und den flott geschriebenen, erläuternden Hintergrundtexten macht das Buch zu einem Liebhaberstück für alle, die wissen wollen, wie es in der Westberliner post-1968er-Szene zuging. Neben eher einführenden Aufsätzen zum Konzept der linken Gegenöffentlichkeit und Infrastruktur sowie der Geschichte der Zeitschrift finden sich detaillierte Betrachtungen zu Themen wie Antisemitismus/Antizionismus, Antiamerikanismus, Rassismus, Militarismus, dem Verhältnis zur „Arbeiterklasse“, dem Internationalismus, dem Bild der Randgruppen, dem Umgang mit der NS-Vergangenheit oder Sexualitätsdiskursen.

So zeigt Knud Andersen in seinem Beitrag auf, dass man unter dem Deckmantel der Solidarisierung mit den Palästinensern auf „antisemitische Argumentationsmuster“ zurückgriff. Dies reichte bis hin zur Verwendung antisemitischer Karikaturen wie der von Golda Meir, die mit einer verdickten, großen Nase dargestellt ist. Den Tiefpunkt solcher Denkmuster, in denen die Israelis als neue Faschisten galten, markierte die Bombe, die 1969 im jüdischen Gemeindehaus platziert wurde und für die die Gruppe „Schwarze Ratten/Tupamaros Westberlin“ die Verantwortung übernahm. Der zynische Kommentar des Kommunarden Dieter Kunzelmann, in dem er von einem „Judenknax“ schwadroniert, wurde in der Agit 883 publiziert. Allerdings, so Andersen, sei der Anschlag in der Redaktion „äußerst umstritten“ gewesen; eine offene antijüdische Haltung habe man abgelehnt. Insgesamt gelangt er jedoch zu dem Schluss, dass eine rein instrumentelle Bezugnahme auf die nationalsozialistische Vernichtungspolitik vorgeherrscht habe, die letztlich deren Verdrängung bedeutete. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Hartmut Rübner in seinem ebenfalls sehr lesenswerten Beitrag „Geister der Vergangenheit“, in der er die Verarbeitung des Nationalsozialismus und Faschismus in der Agit 883 untersucht.

Einen ganz anderen Aspekt untersucht Massimo Perinelli. In seinem Aufsatz zum Thema „Sexualitätsdiskurse“ zeichnet er den Aufbruch der 1968er in Sachen Lust anhand der entsprechenden Agit 883-Artikel nach. So wurden in der Agit 883 nicht nur Kontaktanzeigen mit sexuellem Unterton geschaltet wie der Wunsch nach einer „Genossin, die auch ohne ROT zu werden ROT-FRONT sagen kann“ oder das Gesuch nach einer „Genossin, die auch mit der unteren Hälfte zu diskutieren versteht“. Es wurde explizit zur Einsendung von „Pornos“ aufgerufen und eine sexualisierte Sprache verwendet, um gegen die bürgerliche Moral zu Felde zu ziehen. Doch herrschte dabei, wie Perinelli zeigt, ein frauenverachtender, homophober Unterton vor – obwohl gleichzeitig auch Homosexuelle Kontaktanzeigen in der Agit 883 schalteten.

Das Begleitbuch zur Agit 883 kann aufzeigen, wie ambivalent die Szene nicht nur mit der Frage nach Gewalt als einem legitimem Mittel der politischen Auseinandersetzung, sondern auch mit all den anderen Diskurssträngen, die sich für wenige Jahre in einer einzigen Zeitschrift bündelten, umging. Oder, wie einer der Autoren, Massimo Perinelli, selbst schreibt: „Die Agit 883 ist ein gut gewähltes kleines Fenster“. Der Blick durch dieses Fenster lohnt sich auf alle Fälle.

Birgit Hofmann - red / 1. April 2007
ID 3106


Siehe auch:
http://www.assoziation-a.de/neu/Agit_883.htm





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