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Literatur online: Patrick Wilden
"Vor der Sperrstunde"
Europäische Miniatur N° 1
"Letzte Leerung"
Europäische Miniatur N° 2
Biographie



Vor der Sperrstunde

Europäische Miniatur N° 1

Der Regen prasselt und prasselt. Es ist ein feiner, stetiger Regen, transportiert durch einen dreisten Wind, der einen von der Seite anfährt. Ein Regen, gegen den kein Schirm, keine dickleibige Wetterjacke hilft.
Es gibt Gegenden in Europa, in denen es, ähnlich den Tropen, relativ genau datierbare Regenzeiten gibt. Dort, wo ich mich gerade befinde, auf den im Westen vorgelagerten Inseln, welche man die Britischen nennt, ist der atlantische Himmel oft grau, und schon vor langer Zeit hat sich hier eine Kultur der düsteren Bierkneipen mit versenkbaren Plüschsofas etabliert. Ähnlich dunkle Wirts- und Kaffeehausnischen finden sich in den Gegenden mittendrin, im alten und neuen Mitteleuropa, wo es hauptsächlich im Frühling und Herbst anhaltend regnet. Ein Pole schrieb einmal über die Briefzustellung in einer abgelegenen, bergigen Provinz während einer solchen Schlechtwetteperiode. Briefumschläge, die schon feucht in den Postkasten gelangten, würden als nasse Lappen zugestellt, auf denen kaum mehr die Adresse zu lesen ist. Die Seiten, auf denen ich hier die folgende Begebenheit aufschreibe, sind zum Glück trocken geblieben, obwohl die Wolkendecke seit Tagen nicht aufgerissen ist.
Nach so einem von Regen genäßten und von Wind umtosten Tag, an dem man mit touristisch zusammengebissenen Zähnen, die Kamera im Anschlag, einen atmosphärischen Winkel oder ein Museum im Visier, in düsteren Straßen herumgelaufen ist, ist jede Pizza verdient, auch wenn die Lokalität, wo man sie einzunehmen gedenkt - in unserem Fall im Herzen Prags -, noch so abenteuerlich aussieht. Der stete Regen hatte alles Leben aus den Nebenstraßen der alten Hauptstadt vertrieben, und im Dämmerlicht eines frühen Oktoberabends dachten wir, jedes Reiseführerklischee erfüllend, nur noch an den Golem, an Kafka und natürlich an Pizza.
Das Licht, in das wir aus den für ihre Unheimlichkeit bekannten Straßen nun traten, blendete uns neongrell. Das Restaurant überzeugte nicht gerade, aber wir mußten was essen - soviel war klar. (Auch die Bierpreise, in Prag ein noch immer relevanter Indikator touristischer Urbarkeit, waren akzeptabel.) Also stiegen wir in den neonbeleuchteten Keller hinab, wo ein tschechischer Pizzaofen glühte, der unsere Kleidung zum Dampfen brachte. Wir waren in Prag, der Stadt mit diesen spitzgiebligen Altstadttürmen, und unsere Kleidung dampfte im Pizzadunst, und wir hatten Hunger.
Soweit ist die Sache gediehen in diesem Moment, da ich in einem düsteren Teehaus weitab von Prag am anderen Ende Europas sitze, wo der Regen fällt, und mich frage, warum mir dieses Pizzarestaurant in Prag einfällt. Vielleicht weil ich am liebsten von diesem gepolsterten, paraventartig abgeschotteten Sitzmöbel hier nie wieder aufstehen würde?
Aber die Erinnerung geht noch weiter. Wir saßen also, und ein Mädchen näherte sich uns mit Speisekarten. Sie war vielleicht dreizehn, hatte uns aber, was nicht weiter schwierig war, sofort als Touris eingeordnet - normale Klientel also - und reichte uns deshalb die Essenspläne mit einigen englischen Floskeln - Globalisierung eben.
Doch nach so einem Tag im Regen, inmitten der zugigen Straßen der alten Hauptstadt Prag, da wir das Glück, einer Pizza nah zu sein, kaum fassen konnten, fiel die Wahl schwer - trotz des aussichtsreichen Vorgeschmacks, den das Menü bot.
Und unsere Bedienerin näherte sich ein zweites Mal, diesmal mit einem übergeschlagenen Schreibblöckchen, um unsere Bestellungen dort zu verzeichnen. Aber wir hatten noch gar nicht gewählt. Meine drei Kompagnons, beredter als ich, griffen zu dem Vokabular, das sie in solchen Momenten für üblich hielten, und sagten: "One Moment!" Das Mädchen stand lächelnd an unserem Tisch und begriff nicht: "Wann Moument." Sie verharrte weiter hilflos an unserem Tisch und blickte uns an. Bis ich sagte: "Momänt!" Ihr Blick hellte sich auf, und mit leichten Schritten entfernte sie sich kichernd und ließ uns den dringend benötigten Aufschub.


Patrick Wilden, Dublin, 3. März 2002

Email an den Autor: gnorz@web.de

 
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© 2002 Kultura-Extra (alle Beiträge unterliegen dem Copyright der jeweiligen Autoren, Künstler und Institutionen. Widerrechtliche Weiterverbreitung ist strafbar.)
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