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Literatur online: Patrick Wilden
"Vor der Sperrstunde"
Europäische Miniatur N° 1
"Letzte Leerung"
Europäische Miniatur N° 2
Biographie



Letzte Leerung

Europäische Miniatur N° 2

Brian Borus Harfe ist auf jedem verdammten Geldstück, das unterscheidet es von den Dingern aus Frankreich. Das Kaminfeuer flackert und bullert, während die Regentropfen im Straßenschlick verschwinden. Die Briefkästen sind Georgian oder Edwardian Style. Was können wir anderes tun, als diese blödsinnigen Kleinigkeiten in unserem Kopf einzuschließen?

O'Mahoney hat Schalterdienst, an einem so poetisch verregneten Wochentag, der nichtsdestotrotz ein Freitag ist, hat O'Mahoney Schalterdienst, Schalterdienst ausgerechnet am Briefmarkenschalter, wo die ganzen Arschlöcher aus aller Welt mit ihrem naiven Tourienglisch für ihre ganzen verdammten Länder in aller Welt Briefmarken haben wollen. Gnade uns Gott, wenn O'Mahoney an einem regnerischen Freitag Schalterdienst am Briefmarkenschalter hat. Briefmarken verkaufen im Hauptpostamt an der befahrensten Straße der Hauptstadt der Republik ist nicht witzig. Es ist einfach nur scheiße.
Einmal kommt ein ganz schlauer Typ, sagt:
"Fünfmal für 41 Cent."
'Du kleiner deutscher Drecksack', denkt O'Mahoney, der in seinem Leben schon mehr Briefmarken berührt hat als irgendjemand sonst in dieser Stadt, ganz klar, und er antwortet, indem er die Marken hinlegt:
"Fünfmal Europa, bitteschön."
Und kriegt augenblicklich seine 2,05 rübergeschoben, ohne daß er den Preis genannt hätte, ohne daß er überhaupt hätte Atem schöpfen können, um den Preis zu nennen. Doch auch das wundert O'Mahoney nicht mehr.
In seinem Kopf zirpen Rotkehlchen, alle wollen sie nur die Rotkehlchen-Briefmarken zu 41 Cent, nichts als Rotkehlchen im Hauptpostamt, in dieser verdammten Scheißwelt. So denkt O'Mahoney, das ist der Durchschnitts-O'Mahoney, so, wie man ihn jeden Tag, wenn er am Briefmarkenschalter stehen muß, erleben kann.
Natürlich würde er das nie offen aussprechen, dazu mußten sie ja alle diese Schulungen machen. Außer "Fünfmal Europa, bitteschön!" hat er auch noch andere höfliche Floskeln auf Lager. Aber er kann auch zotig werden.

Nach seinem Dienst tritt er hinaus auf die Straße. 'Gott, wie das regnet', denkt er, als wäre es das erste Mal. Aber es ist nicht das erste Mal. Jeden Tag regnet es, oft gleich mehrfach. Freilich nicht für O'Mahoney, denn der steht an seinem Briefmarkenschalter, nichts im Kopf außer ein paar Floskeln und kalte Wut darüber, daß ausgerechnet er am Briefmarkenschalter stehen muß. Für O'Mahoney gibt es kein anderes Leben.
O'Mahoney schlägt seinen Jackenkragen hoch, wendet sich nach rechts und läßt sich hübsch naßregnen auf seinem nicht eben langen, aber wegen des vielen Feierabend- und Wochenendverkehrs länger dauernden Fußmarsches zum Orient Café, wo er nach der Arbeit seinen Kaffee einzunehmen pflegt, bevor er den Bus besteigt. Der graue Tag, in den das Neon und das Bunt der Einkaufstaschen hineinschimmert, wird unterdessen dunkler, denn es geht auf sechs - sechs Uhr Mitte März, an einem Freitagabend.
Mindestens zwei Briefkästen kommen ihm entgegen auf seinem Weg zum Café, immer diese Scheißbriefkästen, jeden Tag diese Scheißbriefkästen. Mit gerümpfter Nase und vor Nässe beschlagener Brille nimmt er sie durchaus war, kennt sie persönlich, seit er sie, einige Dekaden zuvor, selber leeren mußte. Der eine ist ein Vorkriegskasten, er heißt Eddie. Hi Eddie.
O'Mahoney betritt das Café.

Mit einer geübten Bewegung nimmt er seine Brille ab. Sicher, das ist stupide, diese immergleiche Bewegung, das Abnehmen der Brille überhaupt ist blödsinnig, denn nun sieht O'Mahoney wieder nur einen Schleier, wenn auch einen sehr vertrauten Schleier. Er würde sich geradezu schlecht fühlen, wenn er seine Brille bei der Luftfeuchtigkeit, die inmitten der Essenstheke und der Kaffeemaschinen vorherrscht, anbehielte. Der Schleier läßt die Einzelheiten, die O'Mahoney sehen würde, sobald er sich die Regentropfen und den Dunst von den Gläsern gewischt hätte, so herrlich unbestimmt.
O'Mahoneys Stirn glättet sich. Auf diesen Moment wartet er einen ganzen Arbeitstag lang, und O'Mahoney dehnt ihn immer noch ein bißchen, indem er erst einmal im Eingangsbereich verharrt, bevor er sich ein Tablett schnappt. Auch ohne Brille, die ihm doch immer nur dieselben Gesichter zeigt, findet O'Mahoney die Frau mit dem gelben Pullover, die zum Inventar des Orient Café gehört und bislang alle Renovierungen überlebt hat. Sie sitzt immer rechts hinter der Kasse, sie war da am ersten Tag seines Schalterdienstes und sie würde dort immer sitzen, vielleicht war sie eine Versteinerung.
O'Mahoney nimmt ein Tablett.

Wenig später sehen wir O'Mahoney, sein Tablett vor sich herschiebend, auf dem eine große Tasse Schaumkaffee, ein bröseliges Rosinenbrötchen und ein Klecks Butter plaziert sind, zu seinem Platz gehen. Gelassen durchschreitet er die Lokalität, von der feuchten Menschenwärme dampfend und in sich ruhend inmitten der futternden und schlürfenden Umgebung, bis er den hinteren Saal erreicht hat. Dieser ist düster und immer so gut gelüftet, daß O'Mahoney spüren kann, wie der Luftzug über seine schütteren farblosen Haare streicht. Er rückt daher auf der Bank sehr nahe an den Kamin heran.
Es geht auf halb sieben, als O'Mahoney mit einem abwesenden Blick in sein Brötchen beißt.
In dieser Situation erreicht ihn kein Lärm, keine Zeitung, kein Nichts, kein Niemand. Entfernt verspürt O'Mahoney den täglichen Ärger über die gestiegenen Preise, jedesmal wenn er an der Kasse sein Portemonnaie zückt. Seitdem die Münzen kleiner geworden sind und nicht mehr in Pfunden ausgegeben werden, versteht O'Mahoney seinen eigenen Rhythmus nicht mehr.
Wassertropfen glitzern im Licht des Feuers.
Eine Bewegung dringt an sein Auge. O'Mahoney gegenüber schleckt jemand Briefmarken ab und klebt sie auf Postkarten. Obwohl er aus seiner Abwesenheit nur langsam auftaucht, zählt O'Mahoney mit: es sind genau fünf.
Er hört Harfenklänge: "Fünfmal für 41 Cent." Die Pupillen wollen nicht scharf stellen, aber er ahnt, daß sein Gegenüber der schnöselige Europäer mit dem deutschen Akzent ist. Die Rotkehlchen lösen sich von den Marken, flattern vorbei, und er bemerkt, wie der Deutsche aufsteht und sich über ihn beugt.
"Eine Harfe, bitte", murmelt O'Mahoney.

O'Mahoney liegt am Boden und sieht nicht sehr gut aus. Er stirbt eigentlich, könnte man auch sagen, und ein großer Mann mit fünf Postkarten in der Hand steht neben ihm, am Kamin im düsteren Nichtrauchersaal des Orient Café.
'Verdammt, es regnet ja immer noch', denkt O'Mahoney ein letztes Mal. Dann nimmt er den Bus.


Patrick Wilden, Dublin/Tübingen, 15. März - 14. April 2002

Email an den Autor: gnorz@web.de

 
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