Kunst und Literatur
15. Berliner Märchentage
"Sechzehn auf einen Streich"
05. bis 21. November 2004

„Schneid ich oder ess`ich?“ Ein Gespräch über Aufschieben und Unentschlossenheit im Rahmen der Berliner Märchentage

„(...) Als sie vor den Acker kam, sprach sie zu sich selbst: `Was tu ich? Schneid ich eh´r, oder eß ich eh`r? Hei, ich will erst essen. Nun aß sie ihren Topf mit Brei aus, und als sie dick und satt war, sprach sie wieder: `Was tu ich? Schneid ich eh´r oder schlaf ich eh`r? Hei ich will erst schlafen...(....)“





Aufschieben und Unentschlossenheit, Handeln und Verweigern: Märchen sind vielschichtig; die oft herbeizitierte„Schwarz-Weißmalerei“ kennzeichnet oft nur die Oberfläche der Texte. Dies macht Märchen nicht nur für erwachsene LeserInnen spannend, sondern ist der Wissenschaft längst bekannt und ein häufiger Grund für psychologische, pädagogische und germanistische Annäherungen. Das Grimm`sche Märchen von der „klugen Else“ und der Aufbereitung desselben von Inge Lux im Rahmen der „Berliner Märchentage“1 und ihrer Serie „Chaos und Gerümpel“ hat sich zwar auch einer wissenschaftlicher Annäherung, nämlich der tiefenpsychologischen Deutung des Märchens von Jürgen Drewermann bedient, diese sollte jedoch hauptsächlich als roter Faden dienen: Im Vordergrund stand die „Selbst-Erfahrung am Märchen“ der Teilnehmerinnen an diesem Gesprächsabend.
„Ess ich, oder schneid ich?“ war der Leitgedanke, mit dem Inge Lux die gemeinsame Interpretation des Märchens einleitete, die Problematik des Handelns oder dessen Verweigerung war Hauptthema des Abends. Durch die rege Beteiligung der Teilnehmerinnen wurden aber im Verlauf des Abends viele „dunkle“, im Sinne von unklaren Textstellen, die das Märchen zu bieten hat, diskutiert.
Kurz zur Handlung: Das Märchen berichtet von einem Mädchen, von Beginn an die „kluge Else“ genannt, das anscheinend als „zu gescheit“ gilt, um in der patriarchalischen Gesellschaftsordnung, in der die Figuren sich bewegen, ihren Platz zu finden. Ihre Reaktion bleibt die Verweigerung, diese wird am Schluss von ihrem Ehemann damit quittiert, dass er ihr Narrenschellen an die Füße bindet und sie dadurch letztendlich um ihre Persönlichkeit bringt. „Bin ich´s oder bin ich`s nicht?“ fragt Else sich immer wieder, und verzweifelt geht sie von Tür zu Tür um Anzuklopfen; aber niemand will sie herein lassen.
Die an diesem Abend gebotenen Ansätze zur Deutung des Märchens kamen trotz oder durch die rege Beteiligung der Zuhörerinnen zwar zu keinem einheitlichen Schluss; das sollte aber wahrscheinlich auch gar nicht Ziel des Abends sein. Die altersmäßig sehr gemischte Gruppe von Frauen ließ eine Diskussion entstehen, die zeigte, dass Identifikation mit der Rolle der Frau im Märchen aber auch Interpretation generationsbedingt sein können. Thematisiert wurden die Vater-Tochterbeziehung, Co-Abhängigkeiten innerhalb von Familien, zu erfüllende Erwartungshaltungen sowie deren Verweigerung. Die unterschiedlichen gesellschaftlichen, psychologischen und persönlichen Interpretationen, oft gepaart mit gesundem „Hausverstand“ machten neugierig auf mehr Märchenabende für Erwachsene.

Die Berliner Märchentage dauern noch bis 21. November und präsentieren insgesamt um die 1000 Veranstaltungen an verschiedenen Orten in und rund um Berlin. Das Programm finden sie unter URL: www.berliner-maerchentage.de"

Weiterführende Literatur zum Märchen von der „klugen Else“ z. B. : Eugen Drewermann: Lieb Schwesterlein, laß mich herein. Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet. Dtv Taschenbuchverlag 1992.

Ein weiteres Seminar mit Inge Lux findet am 27. November von 11.00-17.00 Uhr in Berlin in „Eva´s Arche“ statt. Ausgangspunkt für Körpererfahrung, Seidenmalerei und Gespräch wird diesmal das Märchen „Die Gänsemagd“ sein, ein Ziel ist, den eigenen spirituellen Weg als Frau durch die Selbsterfahrung am Märchen zu spiegeln. Tel. Anmeldung unter 030/283 38 53, für gehörlose Frauen unter Fax: 030/283 65 47. Nur für Frauen.

Friederike Schwabel, 17. November 2004

Anmerkung:
Die Veranstaltung fand statt im
Ökumenisches Frauenzentrum Evas Arche e. V.
Große Hamburger Straße 28
10115 Berlin-Mitte
www.evas-arche.de