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Feuilleton


Zeichnungen des Lichts

Clichés-verre von Corot, Daubigny und anderen aus deutschen Sammlungen

Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett im Residenzschloß
noch bis 3. September 2007, täglich außer dienstags 10-18 Uhr


Jean-Baptiste Camille Corot: Le songeur (Der Träumer), 1854
(c) Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett
Foto: Elke Estel / Hans-Peter Klut

Vom Schattenbild zur Künstler-Foto-Grafik

Im Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden ist derzeit eine kleine Besonderheit zu besichtigen. Im zweiten Stock des Residenzschlosses, oberhalb der stark frequentierten und in ihrer scheinbaren Eindeutigkeit bestaunbaren königlich-sächsischen Kostbarkeiten des Grünen Gewölbes, wird eine Ausstellung mit Clichés-verre gezeigt, einer hybriden und daher – dem herrschenden Geist der Zeit geschuldet – weitgehend vergessenen künstlerischen Technik zwischen Radierung und Fotografie.
Das Problem beginnt schon mit der Charakterisierung. Was um Himmels willen ist ein „Cliché-verre“? Die Technik geht auf die Anfänge der Fotografie zurück. Im Jahr 1839 ließ sich der Engländer William Henry Fox Talbot ein fotografisches Verfahren patentieren, das er für die massenhafte Reproduktion von Gemälden als geeignet ansah. In die Deckschicht einer geschwärzten Glasplatte wurde mit Stichel oder Federkiel eine Zeichnung geritzt und diese anschließend auf Fotopapier ausbelichtet. Das Resultat ist eine „Zeichnung des Lichts“, als fotografischer Abzug und ohne Kamera entstanden, aber im Prinzip für den massenhaften Gebrauch geeignet.
Was in Dresden zu sehen ist, sind jedoch keine „shadow pictures“ von Fox Talbot. Denn bald schon, nach diversen Experimenten und Patentstreitigkeiten, hatte sich herausgestellt, daß die Weiterentwicklung klassischer Reproduktionstechniken wie Holz- und Stahlstich und auch das noch junge lithographische Verfahren für den Massenmarkt, das heißt für die Reproduktion von Kunstwerken oder die ‚Aufnahme‘ von Szenen, Orten und Landschaften in Zeitschriften und Alben, geeigneter waren als die „Glasradierung“, wie das Cliché-verre in Deutschland genannt wurde. Das lag unter anderem auch daran, daß die Glasplatten einfach nicht haltbar genug waren für massenhafte Vervielfältigung und viele nach nur wenigen Abzügen zerbrachen.

Wiederentdeckung in Frankreich

Seine eigentliche, vom sich entwickelnden Kunstmarkt erst spät erfaßte Karriere machte das Cliché-verre erst in den 1850er und 60er Jahren, als es von den französischen Landschaftsmalern Camille Corot (1796–1875) und Charles- François Daubigny (1817–78) in Arras und später vor allem in der Künstlerkolonie Barbizon südlich von Paris als künstlerische Technik adaptiert wurde. Corot, der über den Fotografen Adalbert Cuvelier zu der Technik kam, widmete sich dem Cliché-verre ab 1853 bis zu seinem Tod immer wieder, ungefähr zwei Drittel seines graphischen Werkes, insgesamt 66 Blätter, entstand in dieser Technik. Daubignys Beschäftigung beschränkte sich auf 17 Blätter, wahrscheinlich aus dem Jahr 1862. Neben diesen beiden Künstlern gibt es auch einzelne Clichés-verre von Charles-Emile Jacque, Théodore Rousseau und einigen anderen, hauptsächlich in Barbizon im Wald von Fontainebleau tätigen Künstlern; sogar Eugène Delacroix schuf ein Cliché-verre.

Jean-Baptiste Camille Corot: Le petit berger (Der kleine Hirte)
(c) Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett
Foto: Elke Estel / Hans-Peter Klut
Die Motive entsprechen den malerischen Interessen und Vorlieben ihrer Schöpfer: ländliche Szenen, „Souvenirs“, zum Teil mythisch aufgeladene Szenen oder kleine Pastoralen. Der Skizzencharakter ist auf vielen Blättern zu spüren. Eines der am häufigsten zu sehenden Motive stellt etwa „Le petit berger“ (Der kleine Hirte) von Corot dar, das er einige Jahre früher bereits für ein Gemälde verwendet hatte. In der Dresdner Ausstellung werden die Clichés-verre, flankiert von teilweise sehr sehenswerten Landschaftsfotografien der Zeit aus der Münchner Sammlung von Dietmar Siegert und von Rolf Mayer, Stuttgart, mit Radierungen und anderen Graphiken der Künstler parallelisiert, so daß dasselbe Motiv, auf den ersten Blick täuschend ähnlich, in unterschiedlichen Techniken erscheint.
Besonders gelungen ist etwa die Inszenierung von Daubignys „Le gué“ (Die Furt) von 1858 oder 1859, auf dem eine Herde Kühe unter einer düster sich über einen Fluß beugenden Baumgruppe ins Wasser getrieben wird. Von diesem Cliché-verre gibt es eine Kaltnadel-Radierung von 1865, die, der Anfertigung geschuldet, das Cliché-verre seitenverkehrt in etwa kopiert. In der Ausstellung sind die beiden Blätter über Eck gegeneinander gehängt, aus der fliehenden Bewegung, mal nach links, mal nach rechts, ergibt sich ein schöner Gleichklang, der zugleich den Experimentcharakter des Mediums transparent macht.

Der Markt erwacht

Denn auch das ist ein Anliegen der Ausstellung, die unterschiedlichen Versionen und Abzüge der Platten zumindest exemplarisch vorzuführen. Daubignys „Le gué“ wurde beispielsweise auch als Gegendruck abgezogen, wodurch die Zeichnung zu verschwimmen scheint und das Motiv viel dunkler und voller wirkt. Mit derlei Mitteln haben vor allem Corot und Daubigny immer wieder gearbeitet. Wiederholungen gehören daher zum Programm. Das hat auch mit der weiteren Vermarktung des Cliché-verre zu tun, die erst um die Jahrhundertwende in Gang kam.
Nach der kurzen, aber intensiven praktischen Phase der künstlerischen Anwendung, die das Cliché-verre besonders in Barbizon erfuhr, geriet es wiederum für einige Jahrzehnte in Vergessenheit beziehungsweise blieb nur in einem engen Kreis von Künstlern und Sammlern bekannt. Auf dem Pariser Kunstmarkt tauchten Blätter von Corot und Daubigny erst nach der Jahrhundertwende auf, etwa als Ende 1904 die Sammlung Hédiard mit 90 „procédés sur verre“, wie sie genannt wurden, versteigert wurde. 1911 wurde die ansehnliche Sammlung von Original-Glasplatten von Adalbert Cuveliers Sohn Eugène nach dessen Tod an den Pariser Verleger Albert Bouasse-Lebel verkauft, der, ganz dem Trend der Zeit folgend, Neuauflagen von 10 bis 15 Exemplaren als Originalgraphiken abziehen und zu Sammlermappen zusammenstellen ließ. Im Jahr 1919 wurde die Plattensammlung abermals veräußert, diesmal an die Galerie Sagot-Le Garrec, die mit einer neuerlichen Edition von bis zu 150 Stück den kleinen, aber vorhandenen Markt bediente. In der Dresdner Ausstellung hängen bisweilen Abzüge aus allen drei „Epochen“, aus dem 19. Jahrhundert auf Albumin- oder Salzpapier sowie aus den beiden Editionen, nebeneinander. Die zugrunde liegenden Glasnegative befinden sich heute übrigens größtenteils im Besitz der Bibliothèque nationale de France.

Die Dresdner Sammlung als Beispiel und Vorreiter

Aber noch eine – spezifisch Dresdner – Besonderheit zeichnet die Ausstellung des Kupferstich-Kabinetts aus. Im ersten der vier Räume wird nämlich die 25 Blätter umfassende Sammlung des Dresdner Kabinetts gesondert ausgestellt und das nicht nur aufgrund des schon fast sprichwörtlichen Traditionsbewußtseins von Sachsens Hauptstadt. Vor allem wird in diesem Raum die Chronologie des Erwerbs dezent, doch in Form von groß über den Objekten angebrachten Jahreszahlen deutlich sichtbar in Szene gesetzt und durch Vitrinen mit Auktionskatalogen aus Luzern oder Frankfurt und Faksimiles der Korrespondenz des damaligen Direktors Max Lehrs mit seinen französischen Geschäftspartnern Alfred Strölin und Loys Delteil geradezu erlebbar gemacht.
Dabei zeigt sich auch, daß Dresden mit seinen 25 Clichés-verre zwar nur im Mittelfeld deutscher Sammlungen liegt – das Berliner Kupferstichkabinett zum Beispiel besitzt 46 –, daß Max Lehrs 1909 aber der erste deutsche Museumsleiter war, der sich sammlungsmäßig an die hybride Technik heranwagte. Damit stand er durchaus im Widerspruch zu seinen Mitarbeitern. Während Lehrs’ Direktorialassistent Hans Wolfgang Singer noch 1914 davon sprach, daß „von einem besonderen graphischen Verfahren ... nicht die Rede“ sein könne, wurde dieses Diktum 1930, nach den letzten Ankäufen ein Jahr zuvor, im Dresdner Anzeiger revidiert und das Cliché-verre gerade als „besondere graphische Technik“ geadelt.

Charles-Francois Daubigny: Vaches sous bois (Kühe im Wald), 1862
(c) Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett
Foto: Elke Estel / Hans-Peter Klut
Bis zum 3. September sind die „Zeichnungen des Lichts“ nun noch im zweiten Obergeschoß des Residenzschlosses zu sehen. Da die eigentlichen Räumlichkeiten des Kupferstich-Kabinetts umbaubedingt geschlossen sind, bietet die Ausstellung zusätzlich ein besonderes Ambiente. Die zum Teil nicht einmal postkartengroßen Graphiken werden auf weißen und sehr gediegen dunkelblauen Wänden in dem noch unsanierten Gebäudeteil gezeigt, in den später wieder die Prunkgemächer Augusts des Starken einziehen sollen. Die wechselvolle Geschichte des Gebäudes ist an den geschwärzten, rohen Wänden, die in einem eigentümlichen, aber gelungenen Kontrast zu den gezeigten Objekten stehen, gut abzulesen.
Wesentlichen Aufschluß über die Technik und ihre beiden Spielarten – das Ton- und das Linienverfahren –, über die Künstler, die Sammlungsgeschichte und die nicht unwesentliche Weiterentwicklung des Cliché-verre im 20. Jahrhundert bietet der von Agnes Matthias parallel zur Ausstellung erarbeitete Katalog (Deutscher Kunstverlag, 132 Seiten in Klappenbroschur; in der Ausstellung 19,90 Euro, im Buchhandel 24, 90 Euro). Dem informativen Aufsatz der Autorin folgt ein knapper Essay von Rainer Michael Mason, als langjähriger Leiter des Genfer Cabinet des estampes ein Kenner der Materie, und der gründlich recherchierte Katalogteil, in dem alle ausgestellten Blätter in ihrer speziellen Farbigkeit reproduziert und ausführlich beschrieben sind. Auch die in der Ausstellung gezeigten 28 Graphiken, 20 Fotografien und 2 Gemälde – letztere Leihgaben aus dem Leipziger Museum der bildenden Künste – werden aufgeführt.
Das Cliché-verre scheint sich derzeit generell wieder größerer Beliebtheit zu erfreuen. So wurde Ende März 2007 im nordfranzösischen Arras, dem künstlerischen ‚Geburtsort‘ der Technik, eine kleine Schau unter dem etwas hölzernen Titel „Gravure ou photographie? Une curiosité artistique: le cliché-verre“ eröffnet, in der im übrigen auch die alten Glasplatten aus der Bibliothèque nationale gezeigt wurden. Aber auch die Dresdner Exposition, die nur den in deutschen Sammlungen lagernden Beständen gewidmet ist, kann sich als kleine feine Kabinettsausstellung sehen lassen und wird vielleicht nicht nur den ein oder anderen Graphikfreund und Sammler erfreuen, sondern einer neuerlichen Wiederentdeckung auch hierzulande Vorschub leisten.


p.w. – red. / 17. August 2007
ID 00000003402

Weitere Infos siehe auch: http://www.skd-dresden.de





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