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Feuilleton


Haus am Waldsee, Berlin 22. Juni bis 17. September 2006

ANSTOSS BERLIN - Kunst macht Welt


Text: Gerald Pirner

Atomisierung im Globalen

Zur Ausstellung Anstoss Berlin im Haus am Waldsee noch bis zum 17. September 2006


Daphne – Verwandlung in Betonguss eingetöpfert, von eigenem Sockel und Holzkasten in Hand-Höhe geschoben, die greift dran: Topf auf Betonfliese drehbar befestigt, Lorbeerblätter oben wie drauf gesteckt, fühlen sich eher wie versteinerte Schnitt- und Stichwerkzeuge an… Manfred Pernices Arbeit von 2006 im Vorgarten des Ausstellungshauses: Anstoß zur Ausstellung gleichen Namens, für die sie, den Abschied von beziehungsstiftenden Mythen einfordernd, als leicht ironisierender Fluchtpunkt fungiert… An dieser Stelle des Ausstellungsgeländes platziert wird Pernices Arbeit, wie der von Via Lewandowsky Von Hinten (2006) gegenüber – zwei gleiche Holzhäuser ineinander gestürzt im Versuch das jeweils andere loszuwerden erstarrt und doch Behausung einander und ohne Raum für Drittes – zu viel von dem angetan, was den meisten anderen Arbeiten der Ausstellung fehlt: ein Bezugnehmen aufeinander, eine gemeinsame Idee… Anstoss Berlin, Anstoß einer Stadt, die in den Arbeiten der 62 KünstlerInnen aus 25 Ländern nur insofern eine Rolle spielt als alle ausgestellten Werke in Berlin produziert worden sein sollten – keine Nobodies natürlich, alles mit Rang und Namen, John Bock etwa, Florian Slotawa, Norbert Bisky, Olafur Eliasson um nur einige zu nennen, alle lose nebeneinander, jeder für sich und der Markt gegen alle… Und doch ist vielleicht gerade diese vermeintliche Beziehungslosigkeit der Arbeiten zueinander, die Stärke dieser Ausstellung, wie sich noch zeigen wird.


Manfred Pernice, Ausschnitt von Daphne, 2006. Foto: Adel  Via Lewandowsky, Von Hinten, 2006. Foto: Adel


Freilich sucht die Schau, wie von mehreren RezensentInnen auch bemerkt, den „Exportschlager `Kunst aus Berlin´ “, den „stärksten Wirtschaftsfaktor der Stadt“ zu präsentieren. Ob davon allerdings das Gros der zwischen ALG II schwachsinnigen Beschäftigungsmaßnahmen und eigener Arbeit zerrissenen KünstlerInnen, die zudem vermehrt als Experimentierfeld staatlicher Sozialpolitik vernutzt werden, irgendetwas profitiert, ist mehr als fraglich.
Der Eintritt in die untere Etage des Hauses, bildloser Hörraum eines Blinden, den, trotz der losen Masse ihm verbal und textlich vorgestellter Bildproduktionen, nie der Eindruck befällt, von aufdringlichen Produkten eines Kunstsupermarktes besprungen zu werden… Ein Blinder, der sein eigenes Gedächtnis sich schafft indem er hingreift, beschriebene Kunstwelten in ihrer körperlichen Materialität durch die Haut sich einspuren lässt: der fetttropfende Farbauftrag von Jonathan Meeses Sherrif (2006) etwa, und an der anderen Wand fast flüchtiger Ölstrich auf Holz in Corinne Wasmuhts Arbeit Huari (2004)… Dann die Hand nach einem „Bitte nicht berühren“ von Thomas Rentmeisters (ohne Titel 2006) neuerlichen Nuss-Nougat-Aufschichtungen (diesmal auf Stelen) zurückgezogen.

Die zerrissene Frau
Monadische Kunstwelten sich uneinheitlich ja gebrochen entfaltend wie etwa China Women (2006) von Quin Yufen, einer Arbeit, in der bereits in den verwendeten Materialien und Gegenständen die menschenzerreißende Wucht der Kapitalisierung Chinas deutlicht wird… Ein Flickenteppich zu weiblichen Kopf und Oberkörper vernäht ist da tastbar, die Arme, die Hände, die Brüste, der Bauch und drunter als „Unterbau“ – Metapher dieses Marxschen Begriffes für die ökonomische Basis einer Gesellschaft – geöffnete Elektronik, Lautsprecher, Bauelemente, Leiterblatten…. Zu tasten auch das leise Vibrieren akustischer Wellen, als helles Wispern elektronisch erzeugter Töne hörbar, aus deren Verdichtung sich nach einer Weile verfremdete Gesänge einer oder mehrerer Frauen herausschieben: dezent immer und wie bei sich, als hätte das Gerät tatsächlich geöffnet werden müssen um solch Klangrinnsal überhaupt hörbar zu machen…
China Women – Titel oder Name für ein Mensch-Sein, dessen Spuren in seinen Produkten im Nachhinein nur noch nachgetastet werden kann…
China Women – sprachlicher Beleg für eine Begriffseinheit, die keinen Körper mehr findet und schon gar keinen einheitlichen…
China Women – ein Geschlecht das über geschlechtsspezifische Produktion zwischen Fabrik und Näharbeit, zwischen Fließband und Unterhaltungsindustrie bestimmt wird…
Gegenüber Untitled (2005) von Rirkrit Tiravanija – eiskaltes Stahlglatt eines geöffneten Schrankes, darin Geschirr (selbes Material) Kocher nebst Gasflasche, und die, die damit zu hantieren hat, sieht die, die das tut, die in solcher Verspiegelung sich aber vielleicht gar nicht erkennt; verfremdet sie im Stahlmantel wie die Frauenstimmen Quin Yufen…



Quin Yufen, China Women, 2006. Foto: Adel


Körper-Projektionen
Rhythmus eines von einer Frau gesungenen Dancefloorsongs, endloser Loop raumfüllend aus einer Box, in deren Wand Löcher gebohrt… Vom Titel der Arbeit Angela Bullochs Erotic Rhytm Box (2004), die Assoziation Peepshow nahe gelegt, obwohl ihr Spiel mit Körper und Projektion – hinter einem verglasten Rahmen vier Siebdrucktafel mit den selben Farben, die auch aus den Löchern des Kastens auf die Wand projiziert – weit über moralische Erhebungen hinausgeht: denn einerseits bleibt von Sex hier nur eine Behauptung, manifest werdend im Titel, andererseits wird in der Gegenüberstellung hinter Glas gesperrter Körperlichkeit von Farbe und deren reiner Projektion, Körper hinter der Produzierbarkeit seines Bildes zum Verschwinden gebracht. Die Dauer des Rhythmus, alles durchziehende Konstante, teilbar in die Zeitabschnitte des Loops und endlos zugleich, erinnert an den Elan vital des französischen Philosophen Henri Bergson: eine alle Körperlichkeit nie endende Kraft…
Candice Breitz Soliloquy Trilogy (2000) – drei Filme auf die Parts ihrer jeweiligen Hauptdarsteller zusammengezogen: Jack Nicholson, Sharon Stone, Clint Eastwood… Dialoge zu Monologform montiert, der Schnitt an Stelle eines Gegenübers, lässt Reflexe des Sprechens zurück anhand derer eine Person ausgelotet, von der nicht mehr gesagt werden kann, ob sie dargestellt oder ob sie der Darsteller selbst, von dessen Rolle freilich nach Entzug allen Erzählkontextes nichts mehr übrig… Während der Blinde einer psychotischen Selbstvervielfältigung nachlauscht, löst gleichzeitig das Bild eines Idols sich aus einem Film, dessen es nicht mehr bedarf, denn im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit verliert sich die Aura – und anders als Walter Benjamin dies konstatierte – eben gerade nicht; eher wird sie vervielfacht und erlangt in phantasmatischem Begehren bei gleichzeitiger Austauschbarkeit erneut eine geradezu magische Macht. Und ist es paradoxer Weise nicht gerade diese Beliebigkeit mittels derer Aura und Authentizität sich ihrer Unnahbarkeit versichern? Was das Angebetete von gestern mit dem von heute verbindet, ist ja nicht Unersättlichkeit, es ist Unbefriedigtsein. Es ist unstillbares Begehren, das, und sei es nur für Momente, alle Idole zerschlägt und die Begehrenden in eine unerreichbare Nähe zu sich selbst taucht. Was aber oder wer ginge daran, diesen Schnitt noch weiter aufzureißen, den Candice Breitzs Arbeit so deutlich hörbar macht…
Bei Aufschlag hohl dröhnender Polyesterkörper und der gleich in dreifacher Ausführung, fabrikproduzierter Serienspritzguss Schneiderpuppen nicht unähnlich, nur dass die keinen Kopf haben und keine Arme, unser Kunstobjekt Dreamer (2000-2001) von Wang Fu verfügt freilich über beides zumal es sich, wie der Katalog zu berichten weiß, um Kopf- und Körperdarstellung des Künstlers selbst handelt, die hier als Projektionsgrund für Träume in Gestalt verschiedener Landschaftsbilder fungieren. Der Kopf als Mischung von Erhabenheit und Verzückung getastet, die Arme unter der Brust verschränkt, ein Sockel an Unterleibes statt… Das Innere auf die Haut gekehrt oder ist es das Äußere, dessen Niederschlag auf ihr zu finden und das sich in der Wiederholung der Serienproduktion doch ein jedes Mal ändert.
Vollkommen unverändert eine hockende Frau am Wasser, die Hosen heruntergelassen, pissend… Und dass solch Handeln nicht mit einer Haltung der Esoterik, der Perversion oder der Demut (außer der gegenüber den eigenen natürlichen Bedürfnissen) zu verwechseln, lässt die Künstlerin Ann-Sofi Sidén kontinuierlich aus ihrer Bronzeskulptur Fideicommissum (2000) einen Wasserstrahl aus der hierfür von der Natur vorgesehenen Öffnung hervorsprudeln. Auch diese Skulptur ein Selbstporträt der Künstlerin um das sich jetzt Kinder niedergelassen, die die mit Händen aufgefangene Wasserpisse auf der Plastik verschmieren…


Wang Fu, Dreamer, 2000-2001. Foto: Adel  Ann-Sofi Sidén, Fideicommissum, 2000. Foto: Adel


Das Zeichen und seine Handlung
Zu Blöße aus seiner Verschirmung geschält, in filigranen Windungen herabfallend bis zum Boden, vorsichtig folgen die Finger ihnen durchs kahle Drahtgestell zu dem hin, was nackt jetzt strahlt … Die Rückkehr einfachster Sinnlichkeit ins einstige Symbol ihrer Austreibung, dem elektrischen Licht, eine blankstrahlende Glühbirne hier: Noguchi Split (2005) von Albrecht Schäfer, Surrogat von Nähe zwischen Melancholie und Sweatshop-Produktion, Fortschritt in seinem Zeichen beendet und das Erreichte lässt nichts Erreichbares mehr übrig…
Akustische Abschirmung mittels Kopfhörer auf eine Arbeit verpflichtend, bildlos für den Blinden ein ausschließendes Diktat des Gehörten: Geknister fressenden Feuers, Einstürze akustisch – Zeichen als Erwartung, dass andere Zeichen folgen würden hier das Signal eines Martinshorn, Schritte, eine Stimme aufgeregt… Aber nur das Bild des Videos House Burning (2001) von Janet Cardiff & George Bures Miller zeigt, dass die Feuerwehrmänner am brennenden Haus vorbeilaufen, es als ignorierbares Zeichen zurücklassend… Was die Löscheinheiten rief und weshalb sie gekommen ist nicht das Selbe. Das gesehene Zeichen, seiner Bedeutung verlustig gegangen, verliert die Macht von Anweisungen und Anspruch, selbst infrage gestellt, vermag es den akustischen Illusionen heiler Zeichenbeziehungen nichts klärend entgegenzusetzen: denn was brennt da eigentlich im Off außerhalb des Bildes in welches die Feuerwehrleute verschwinden? In gewisser Weise, und gewollt oder nicht, ist Cardiffs & Millers Video eine Entgegnung auf Brechts Gleichnis vom brennenden Haus und dessen einfache Aktion-Reaktion-Bezüge, die in solcher Konfrontation anfangen hohl zu drehen.



Havekost, Frank Nitsche und Thomas Florschuetz Foto: Adel
 
Janet Cardiff & George Bures Miller, House Burning, 2001 Foto: Adel



Nicht weit entfern ein Regalbrett, zwei Marmorbecher in Glockenform darauf, mit einem Hanfgarn verbunden, beide tastbar beschriftet auf dem einen Ost auf dem anderen West zu lesen… Wer den einen Becher vom Regal nimmt muss auch den anderen mitnehmen. Wer den einen allein umdreht um ihn zu füllen muss es vorsichtig tun, stürzt er doch sonst den anderen vom Brett und der risse ihm den gefassten aus der Hand. Set in stone (2002) eine Arbeit von Mona Hatoum aus dem Libanon…
Christine De la Garennes Heimkehr (2003), in endloser Reproduzierbarkeit verhindert… Zwei Lautsprecher, penetrantes Amselgezwitscher und dazwischen ein Landschaftsbild, überall aufstellbar, überall hörbar, auch in der ganzen oberen Etage des Hauses am Waldsee… Die offene Balkontür, aber selbst wer hinaustritt wird die Aufnahme nicht los, die vielleicht von Amseln übernommen wird wie dies mit Handyklingeltönen bereits geschieht. Was also kehrt da heim, wenn nicht die Zeichen in ihrer Verdoppelung weniger eine Entfremdung zwischen Mensch und Natur dabei anzeigend, als vielmehr die Konstruktion allen Wesens, auch dessen der Natur selbst, zu der es kein Zurück, keine Heimkehr mehr gibt und wohl auch niemals gab…
Arbeiten Texte werden lassen, die ohne Überbegriff und ohne Idee sich miteinander kurzschließen, in dieser scheinbaren Zufälligkeit Bezüge auswerfend wie Welten, die in andere eindringen, sie aushorchen, sie verändern, sich verändern, die einen Kunstkosmos auswuchern, zusammengehalten in äußerster Spannung, die jedes der Ausstellung aufgepfropfte Thema nur verhindert hätte: Anstoss Berlin, nach der WM endlich wieder im Plural denkbar, erfahrbar, machbar, ein Anfang in gewaltiger Dimension im Haus am Waldsee…


Gerald Pirner - red / 19. August 2006
ID 00000002609
ANSTOSS BERLIN - Kunst macht Welt
22. Juni bis 17. September 2006

Haus am Waldsee
Argentinische Allee 30
14163 Berlin

Weitere Infos siehe auch: http://www.hausamwaldsee.de






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