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Rezension

Götz Aly - "Im Tunnel"

Das kurze Leben der Marion Samuel 1931–1943
Fischer TB Verlag, Frankfurt/M. 2004
(Nr. 16364)
ISBN 3-596-16364-1
160 Seiten
7,90 Euro [D]


Denkt man an Kinder im Holocaust, so fällt einem wie selbstverständlich Anne Frank ein. Aus ihrem Tagebuch wissen wir aber, daß sie zur Zeit ihres Verstecks im Amsterdamer Hinterhaus eigentlich eine Jugendliche war. Ihr Tagebuch ist im Grunde ein Zeugnis der allmählichen Entfaltung des inneren Gefühlslebens unter den Bedingungen der äußeren Aussperrung. Es ist das Ringen um Worte und Erklärungen eines heranwachsenden Mädchens, das Angst und Hoffnung, Sorge und Geborgenheit, Gut und Böse der Erwachsenenwelt erst zu buchstabieren lernt. Und die Entscheidung, ein Tagebuch zu führen, setzt bereits einen gewissen Grad an Reflexion voraus.
All dies ist von Kindern kaum zu erwarten. Und trotzdem ist es legitim, von ihrem tragischen Schicksal während des Holocausts zu sprechen. Es liegt in der buchstäblichen Unschuld der Wesen begründet, deren Leben schon zu Ende war, bevor es richtig angefangen hatte. Kinder hinterlassen zwar keine authentische Spur, aber gerade in der Vernichtung der Kinderleben zeigt sich, wie die Unmenschlichkeit auf ihrem absoluten Höhepunkt angelangt ist.

Das öffentliche Bewußtsein über Kinder im Holocaust wurde bislang vor allem durch die Literatur wachgehalten, wie zum Beispiel in Ruth Klügers „Weiter Leben“ oder in Louis Begleys „Lügen in Zeiten des Krieges“. Primär gehören diese beiden Autoren aber in die Kategorie der aus der Distanz der reifen Jahre, nach dem ausgestandenen Schmerz verfaßten Erinnerungsliteratur.
Die Geschichtswissenschaft hingegen hat sich der Erforschung einzelner Opfergruppen – von Zwangsarbeitern, Sinti und Roma, jüdischen Ehemännern deutscher Frauen und umgekehrt, von Behinderten, Homosexuellen usw. – erst relativ spät gewidmet. Es ist bezeichnend, daß an die schätzungsweise eine Million Kinder, die im Holocaust umgekommen sind, viel eher durch private Initiativen öffentlich erinnert wird. Die Historie steckt hier noch „im Tunnel“.
Gerade so hat der Berliner Historiker und Publizist Götz Aly – der den akademischen Betrieb von dessen Rand aus mit Themen und Thesen stets provokativ und fruchtbar herauszufordern weiß – sein jüngstes, in der berühmten „schwarzen Reihe“ des Fischer Taschenbuch Verlags erschienenes Bändchen betitelt. Darin versucht Aly dem jüdischen Mädchen Marion Samuel (1931-1943) historisches Leben einzuhauchen. Marion Samuel ist das Mädchen, nach dem die Stifter Ingrid und Walther Seinsch den Preis benannt haben, der an die im Holocaust ermordeten jüdischen Kinder erinnern soll. Götz Aly war 2003 sein erster Träger.

Aber wer war Marion Samuel? Dies war die Frage, für deren Beantwortung sich Aly nicht etwa von der modischen Gedächtnisforschung anregen ließ; vielmehr wurde er vom genuinen Forscherimpuls geleitet, dem Unbekannten und Vergessenen auf die Spur zu kommen. Und gerade dies, die Lektüre macht es schnell deutlich, erweist sich als größte Hürde. „Im Tunnel“ liest sich wie ein Bordbuch des Historikers, in dem die Unwägbarkeiten der historischen Forschung festgehalten werden. Die allenfalls rudimentär erhaltenen Quellen konnten nur mit einem großen Aufwand – Zeitungsaufrufe, Überseekontakte, Zeugeninterviews – überhaupt aufgetrieben werden.
In der Tat scheint zwischen den betriebenen Recherchen und der eigentlichen Ausbeute an Quellen ein großes Mißverhältnis zu bestehen. Von Marion sind nebst akkuraten Verwaltungseintragungen lediglich zwei Photos und ein überlieferter Satz erhalten. Umso mehr liegt die eigentliche Herausforderung der Untersuchung in der methodischen Herangehensweise. Wie beschreibt man also ein Leben, das eigentlich viel zu kurz war für eine Biographie?

Weil Kinder eben noch keine Personen sind und kein selbständiges Leben führen können, liegt es nahe, sie durch das Prisma des Familienlebens zu betrachten. Und gerade das tut Aly. Er schildert die Lebensläufe der Eltern Ernst und Cilly und ihre Lebensumstände im mecklenburgischen Arnswalde nach der Heirat 1929. Kaum ist die Familie Samuel zu einem bescheidenen Wohlstand gelangt, machen sich die ersten Schatten des heraufziehenden Unglücks bemerkbar. Alys Blick ist hier ganz auf die staatlichen Mechanismen der Verdrängung der Juden aus dem öffentlichen Leben konzentriert. Während die Eltern gezwungen waren, ihr Textilgeschäft in das „Volkseigentum“ zu überführen, mußte Marion der Schule fernbleiben. An diesem einzelnen Fall beschreibt Aly zugleich den Einzug des Nationalsozialismus in die entlegene Provinz.
Welchen Schutz hätte eine Familie ihrem Kind noch bieten können, wenn „staatlich gefördertes Unheil“ in Form von Stigmatisierung und sozialer Isolierung, von wirtschaftlichem Ruin und Entwürdigung immer weniger Rückzugsräume übrig läßt? Die Lichter der Hoffnung waren vor allem Amerika und Palästina, und einige Verwandte der Samuels entschlossen sich auch zur Auswanderung. Marions Eltern hingegen entschieden sich 1935 für die Anonymität der Großstadt Berlin; für Aly sind diese Juden die ersten Heimatvertriebenen. Sie verharrten wahrscheinlich in dem verbreiteten Glauben, sie persönlich hätten sich nichts zuschulden kommen lassen, und das Ganze sei nur ein Spuk, der vorübergeht. Indem sich Aly hier der Familienperspektive zuwendet, macht er deutlich, daß sich die Samuels nicht als Gegner des Staates verstanden. Ihre Rettung liege, so dachten sie offensichtlich, nicht etwa im Widerstand oder in der Flucht, sondern in der Anpassung an die Verhältnisse.
In den ersten Monaten schien die Strategie sogar die richtige zu sein. Durch die Kombination verschiedener Quellenarten kann Aly die Familie in ihrer neuen Wohnung am Prenzlauer Berg verorten. Der Vater eröffnete ein kleines Zigarrengeschäft, Marion kam in die jüdische Schule, in der es keine schneidigen Lehrer und keine körperliche Züchtigung mehr gab. Mit dem ständigen Perspektivenwechsel zwischen Familie und der Gesetzgebung kann Aly nun die permanente Zuspitzung der Lage genau nachvollziehen: die Zwangsarbeit der Eltern als „Rüstungsjuden“, die Enteignung des Geschäfts, das generelle Unterrichtsverbot an den jüdischen Schulen.
Im „letzten Akt“ der Tragödie der Familie Samuel ist die Vernichtungsmaschinerie der einzige handelnde Akteur. Aly zeichnet akribisch – hier machen sich seine früheren Arbeiten bezahlt – den Verlauf der Verhaftung am 27. Februar 1943 nach, den Abtransport nach Auschwitz-Birkenau am 3. März, das Wiedersehen Marions mit ihrem Vater, der infolge einer bürokratischen Verzögerung möglich wurde, die Trennung an der Rampe am 4. März und Marions Abfuhr in die Gaskammer – noch eine des alten Typus, die neuen Großkrematorien wurden erst einen Tag nach Marions Ermordung ‚eingeweiht‘.

Mit seinem Buch hat Aly seinem unbekannten Opfer ein Gesicht gegeben, einem "Mädchen mit dunklem Pagenkopf und großen Mandelaugen". Und dennoch hat der Leser am Ende den Eindruck, Marion Samuel nicht wirklich kennengelernt zu haben. Das ist jedoch nicht als Schwäche des Buches zu bewerten. Aly hat sich dem Mädchen in den kinderfeindlichen Zeiten nur durch das Analogieverfahren nähern können. Dabei sind nicht mehr als Schattenrisse einer Kindergestalt entstanden, in deren Innenleben keine direkten Einblicke möglich sind. Von da an kann man sich einzig und allein auf die riskante wissenschaftliche Prothese der Empathie stützen. Und Aly verfällt ihr keineswegs, weder in Form von Mitleid noch durch Pathos, denn er hat die notwendige Einbildungskraft an seiner Seite: "Für Marion Samuel müssen das entsetzliche Tage und Nächte gewesen sein." Damit hat Aly eindrucksvoll demonstriert, warum Marion dennoch ein weißer Fleck im Wissen der Nachgeborenen bleiben muß.


Jovica Lukovic, 3. September 2004
ID 1216





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